Die hl. Ottilie mit Lesesteinen
Nach einer Publikation von Univ.-Prof. Dr. Franz Daxecker
Nach einer Publikation von Univ.-Prof. Dr. Franz Daxecker
Lesesteine werden als Lesehilfen für Presbyope (Alterssichtige) in der Literatur erwähnt, zum Beispiel beim mittelhochdeutschen Dichter Albrecht von Scharfenberg und bei Konrad von Würzburg. Die hl. Äbtissin Ottilie wird meist mit einem Buch in den Händen dargestellt, auf dem ein Augenpaar liegt. Im Stiftsmuseum des Prämonstratenser Chorherrenstiftes Wilten bei Innsbruck befindet sich ein in den Jahren 1485-1490 entstandenes gotisches Tafelbild mit der hl. Ottilie. Auf den Seiten eines aufgeschlagenen Buches in ihrer Hand liegen zwei Linsen. Diese beiden Linsen sind nicht durch einen Bügel oder ähnliches miteinander verbunden, so dass es sich vermutlich um die seltene Darstellung von Lesesteinen handelt.
Als älteste bekannte literarische Quelle für einen Lesestein gilt das Werk des mittelhochdeutschen Dichters Albrecht von Scharfenberg, der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts lebte und von dem wahrscheinlich der „Jüngere Titorel“ stammt. Es heißt dort: „Wie der Beril vergrössert die Schrift, in ihm zu lesen…es wächst hoch, breit, weit und auch in die Länge.“ In seinem Werk „Die goldene Schmiede“ schrieb der mittelhochdeutsche Dichter Konrad von Würzburg (geb. 1220/1230 in Würzburg, gest. 1287 in Basel): „Er (der Kristall) hat in sich die grosse und gewaltige Art, … sofern ihn jemand dünn schliffe und auf die Schrift halten wollte, der sähe durch ihn die kleinen Buchstaben grösser scheinen.[1]“
Die hl. Ottilie (Odilie, geb. um 660, gest. um 720) war eine Äbtissin im Elsass. Sie war blind geboren worden und wurde bei der Taufe sehend; sie gilt als Augenpatronin. Sie gründete das Kloster Ottilienberg (in den Vogesen südwestlich von Strassburg). Da sie als Äbtissin gelehrt war, ist sie in der Plastik und in der Malerei mit einem Buch dargestellt, auf dessen aufgeschlagenen Seiten zwei Augen liegen [2].
Im Stiftsmuseum des Prämonstratenser Chorherrenstiftes Wilten in Innsbruck befinden sich Altartafeln des ehemaligen Ursula- bzw. Marienaltares aus der ehemals gotischen Stiftskirche Wilten. Diese Tafeln zeigen das Marienleben: Verkündigung mit Heimsuchung Mariens, Geburt Christi mit den Königen, Darstellung im Tempel mit dem Kindermord und Tod Mariens (mit Darstellung einer Nietbrille).
In den Aussenflügeln kommt die Ankunft der hl. Ursula in Rom vor, die Marter der Ursula mit ihren Gefährtinnen, die Anna Selbdritt im Kreise von zehn Jungfrauen und Maria mit dem Kind mit zehn Jungfrauen. Bei der Darstellung der hl. Ursula mit den Jungfrauen bildete der Maler Ludwig Konraiter (Herkunft und Geburtsjahr unbekannt, gest. vor 1507 in Innsbruck) an Stelle eines goldenen Untergrundes im Hintergrund die Ansicht des gotischen Stiftes Wilten und dessen Pfarrkirche ab.
Am rechten Rand dieses Bildes steht die hl. Ottilie mit einem aufgeschlagenen Buch. Auf den beiden aufgeschlagenen Seiten des Buches liegen direkt auf der Schrift zwei leicht ovale, gefasste Linsen, die die darunterliegende Schrift vergrössern. Eine Verbindung zwischen diesen beiden Linsen etwa in der Art einer Nietbrille gibt es nicht. Vermutlich hat der Maler im Stift vorhandene Lesesteine abgebildet [3].
Der Altar entstand zwischen 1485 und 1490. In der Komposition ist Konraither in manchen von den Kupferstichen Martin Schongauers (geb. 1450 Colmar, gest. 1491 ebendort) beeinflusst, zum Beispiel im erwähnten Tod Mariens [4].
[1] Gerhard Kühn, Wolfgang Roos: Sieben Jahrhunderte Brille. Deutsches Museum, Abhandlungen und Berichte. R. Greef: Die Darstellung eines Mönches mit Leseglas von anno 1352. R. Greef: Der vergrössernde Krystall des Konrad von Würzburg. Steward Duke-Elder: System of Ophthalmology, Ophthalmic Optics and Refraction. Emil-Heinz Schmitz: Handbuch zur Geschichte der Optik, Die Sehhilfe im Wandel der Jahrhunderte.
[2] Rudolf Pfleiderer: Die Attribute der Heiligen, Ulm 1898
[3] Eine Abbildung eines Lesesteines auf einer Schrift liegend (Nachbildung, keine zeitgenössische Darstellung) bei Emil-Heinz Schmitz: Handbuch zur Geschichte der Optik, Band 1, Von der Antike bis Newton, Bonn 1981, S. 65.
[4] Erich Egg: Die Kunstsammlungen in: 850 Jahre Praemonstratenser Chorherrenstift Wilten 1138-1988. Gertrud Pfaundler: Tirol-Lexikon. Erich Egg: Der Hofmaler Ludwig Konraiter in Innsbruck
Wir danken Herrn Univ.-Prof. Dr. Franz Daxecker für die Genehmigung zur Verwendung seiner Publikation inklusive Farbfotografien!